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Die bekannte und unbekannte Seite von ADC Mitglied Andréas Netthoevel.

30.04.2020 08:00

Diese ungewöhnlichen Zeiten mit virtueller Kommunikation und "Social Distance" nutzen wir, um einander näher zu kommen – jetzt erst recht. Wir machen weiter mit unserer Serie: Wöchentlich stellt sich jeweils ein ADC Mitglied von einer überraschenden Seite vor, indem sie oder er etwas von sich preisgibt, das den meisten nicht bekannt sein dürfte. Diesmal: Andréas Netthoevel.

Die bekannte Seite:
gestaltungsbetrieb 2. stock süd netthoevel & gaberthüel; 1990 Gründer/seit 1995 Mitinhaber; visuelle Kommunikationskonzepte; 1997 Mitglied der Jury im ADC New York, danach – auch, 1997 ADC Schweiz Mitglied; 1998 AGI-Member; Seit 2000 Dozent für visuelle Kommunikation an der Hochschule der Künste Bern HKB; seit 2010 Forschungsdozent im «Institute of Design Research» der HKB; 2015 Gründungsmitglied des gemeinnützigen Vereins Punkt, Punkt, Komma, Strich PPKS
 
Die unbekannte Seite:
Es war einmal, und das ist jetzt über ein halbes Jahrhundert her, bei uns zuhause und bevor ich des Lesens mächtig war, Brauch, dass wir einen dreihundertfünfundsechzig Seiten starken und dementsprechend schweren Jahreskalender an der Wand hängen hatten. Pro Tag ein Riesenblatt mit einer grossen Ziffer, aus der Clarendon wie ich heute vermute, die Werktage schwarz, die Sonntage in feierlichem rot gedruckt. Über der Zahl stand, In kleinen Lettern jeweils, der Monat, unter dem grossen Datum der Tag. Das tollste aber war, dass ich die abgerissenen Blätter des Vortages richtig und seitenverkehrt, beidseitig also, bemalen durfte und so hunderte von geschichtenerzählenden Zahlenweibchen und -männchen kreierte. So kam ich, ohne es zu merken, ins Zählen, lernte erste Buchstabenformen, Wortfragmente, Worte auch und Vieles, das später in der Schule und darüber hinaus nützlich war. 
 
Heute, dutzende Jahre später, bin ich mit Kolleginnen und Kollegen der Hochschule der Künste Bern und der pädagogischen Hochschule Heidelberg Teil eines internationalen Forschungsteams. Gemeinsam entwickeln wir ein inklusives Lernmittel, welches Vorschulkinder mit Blindheit sowie mit und ohne Sehbeeinträchtigung im Sinne von «Emergent Literacy» gleichermassen und gezielt auf den Schriftspracheerwerb vorbereitet. Lesen ist eine der wichtigsten Kulturtechniken unserer Gesellschaft. Lesekompetenz bildet und befähigt zu einer anspruchsvollen Kommunikation. Lesen ist der Grundstein für lebenslanges Lernen sowohl im kognitiven wie auch im affektiven Bereich und ist Fundament für die soziale Integration in eine Gemeinschaft. Lesen ist so wichtig wie Laufen lernen und muss früh gefördert werden, in der Schule, von der Familie und dem ganzen persönlichen Umfeld. Dieser Grundsatz gilt sowohl für sehende Kinder wie auch für Kinder, die in ihrer Sehkraft geschwächt oder gar blind sind. An diesem Punkt setzt das Projekt an.

Blinden Kindern und solchen mit einer schweren Sehbeeinträchtigung ist es vor der Einschulung vergönnt, mit Typografie konfrontiert zu werden. Sie können nur zuhören, wenn Mama aus der Zeitung und Opa aus Büchern vorliest, sehen nicht die Quelle, aus der das Vorgelesene stammt, die Lettern eben, die ein Leben lang eine enorme Bedeutung haben werden. Sie haben keine Chance, die wertvoll kommunizierenden Zeichen, optisch und im Alltag, kennenzulernen. Das orange M beispielsweise, das zum Einkaufen einlädt, die Buchstabenkombination SBB, die von Zügen und dem Reisen schwärmt, das blaue Schild mit dem weissen Ortsnamen das sagt: «Hier bin ich zuhause» und all die erzählenden Zeichen, die die Welt bedeuten. In solchen und vielen Situationen mehr sind sehbeeinträchtigte Kinder mit Sehenden nicht gleichberechtigt. Das ist in Zeiten des inklusiven Schulunterrichts ein enormer Nachteil.
 
Diese Bildungs- und nicht zuletzt auch Marktlücke wird unsere angewandte Forschungsarbeit schliessen. Das Fördermittel, das aus neun C4 formatigen Heften besteht und ganze 3,9 Kilo wiegt, ermöglicht blinden und hochgradig sehbehinderten Kindern – abgestimmt auf ihre spezifischen Bedürfnisse – spielerisch und im Austausch mit ihrem sehenden Umfeld das Erlernen der Brailleschrift. So sind sehbeeinträchtigte Kinder, wenn sie in die Schule kommen, bis in die Fingerspitzen mit den Punkten vertraut. Kurz vor der Fertigstellung steht das wissenschaftlich evaluierte Œuvre nun nach fast zehn Jahren. Neun Hefte, gefasst in einer grossen Kiste, berichten über die Abenteuer von Alex und Lilani auf dem Weg in die Welt der Lesenden. 
 
Wen diese paar Zeilen jetzt neugierig auf das Werk gemacht haben, erfährt mehr über das Projekt unter: www.ppks.ch. Hier besteht auch die Möglichkeit, den gemeinnützigen Verein, respektive die Produktion finanziell zu unterstützen. Wer die Box mit den neun Heften gar schon Vorbestellen möchte, kann das gern bei mir tun. Der Preis für die Kiste beläuft sich auf rund 225 Franken. Geplant ist, sollte diese unnahbare Zeit uns keinen Strich durch die Rechnung machen, dass der Schuber ab August, spätestens aber Anfang Dezember 2020 ausgeliefert werden kann … 
 
Ich danke allen fürs Zuhören und wünsche euch, dass ihr gut durch diese unwirkliche Zeit findet.
 
Mit gutem Gruss
vom Jurasüdfuss
 
Andréas

Tastaufgabe aus dem Heftprototypen «Alex im Land der Unterschiede».

 

Doppelseite aus dem Heftprototypen «Alex und die Reise zu den Musterinseln».

 

Ausschnitt einer Seite aus dem Heft «Alex und die Reise zu den Musterinseln». Sichtbar sind die haptisch ausgelegeten Braillebuchstaben mit der jeweiligen zuordnung des selben Zeichens aus der Schwarzschrift.

 

Umschlag des fadengebundenen Lernheftes «Alex und die Reise zu den Musterinseln». Zu sehen und ertasten sind hier unterschiedliche Formen mit verschiedenen Texturen.

 

Umschlag des fadengebundenen Lernheftes «Alex im Land der Unterschiede». Zu sehen und ertasten sind hier der kleine Alex in der grösse eines Braillepunktes und daneben ein grosser Kreis.