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«Es mangelt uns nicht an kreativen Ideen – sondern an Umsetzungsstrategien»

Um als Spezies überleben zu können, brauche es radikal neue Visionen, sagt der Philosoph Richard David Precht. Doch die Politik habe heute ein Kreativitätsproblem.
 

Laurina Waltersperger

2021

«Es mangelt uns nicht an kreativen Ideen – sondern an Umsetzungsstrategien»
«Es mangelt uns nicht an kreativen Ideen – sondern an Umsetzungsstrategien»
Art Direction: Fabian Bertschinger, Bild: Amanda Dahms

Herr Precht, das Klima steckt in der Krise, ein Virus dominiert unseren Alltag, Populisten gewinnen weltweit an Macht – hat die Welt heute ein Kreativitätsproblem?
Wir leben in einer Gesellschaft, die kaum noch daran glaubt, dass sie grundsätzliche Dinge verändern kann. Das ist ein grosser Unterschied zu früher. Und das führt in verschiedenen Bereichen zu einem Kreativitätsproblem.

An welche Bereiche denken Sie?
Ich meine damit vor allem die Politik. Heute folgen Politikerinnen und Politiker noch viel stärker den ausgetretenen Bahnen, als das früher der Fall war.

Woran liegt das?
Die Politik fürchtet sich davor, medial abgeschossen zu werden, wenn sie vom Pfad ab- weicht. Wir erleben heute eine grosse Ängstlichkeit, die durch das enorme Entrüstungspotenzial in den sozialen Netzwerken entstanden ist. Je mehr sich die Echokammern dort verstärken, desto vorsichtiger wird die Politik. Denn sie ist bis zur Blödheit darauf erpicht, beliebt zu sein. Und das ist man am ehesten, wenn man keine grossen Entscheidungen trifft.

Sie stellen Politikern kein gutes Kreativitätszeugnis aus. Wie steht es um Ihre Zunft: Wie kreativ sind Denker und Philosophen heute? 
Wir haben in den Geisteswissenschaften leider auch grosse Hemmnisse aufgebaut, die die kreative Entfaltung verringern – das gilt bedauerlicherweise auch für Philosophen. Wenn Sie heute in den Geisteswissenschaften Karriere machen wollen, müssen Sie messen. Denken Sie an eine Erziehungswissenschafterin: Sie macht heute vorwiegend empirische Versuche und wertet sie aus. Das ist sehr begrenzt und phantasielos. Es wäre viel kreativer, sich stärker im Grossen und Ganzen mit dem Lernen in unserer heutigen Welt auseinanderzusetzen.

Das heisst, die Vermessung der Welt raubt uns unsere Kreativität?
Der Vermessungswahn hemmt die Kreativität definitiv.

Im Kern bedeutet Kreativität, Dinge neu zu kombinieren, zu variieren. Das eigene Verhalten ändern, Dinge einmal anders anzugehen, das ist eine der wichtigsten Formen der Kreativität.

Wie zeigt sich das?
Wir richten an der Universität Lüneburg jährlich eine Utopie-Konferenz aus. Die ist gut besucht von Menschen, die ganz viele Ideen haben, was man in Zukunft anders machen könnte; beim Klima, beim Konsum oder bei den Sozialsystemen. Das zeigt: Es mangelt uns nicht an Ideen, sondern an Umsetzungsstrategien. Wir sind leider nicht sehr kreativ dabei, den Schritt von der Utopie in die Realität zu machen.

Wo hakt es?
Das hängt damit zusammen, dass die Probleme heute in der globalisierten Welt so ineinander verzahnt sind und damit so komplex geworden sind, dass man mit nationalen Alleingängen in vielen Bereichen nichts mehr ausrichten kann. Einen so schweren Tanker wie die Weltgemeinschaft in eine Richtung zu lenken, ist nahezu ausgeschlossen. Das zeigt sich zum Beispiel beim Klima: Wir wissen ziemlich genau, wo die Probleme liegen – und trotzdem bekommen wir das nicht umgesetzt.

In der Politik und den Institutionen hapert es also bei der kreativen Problemlösung. Wie steht es um die individuelle Kreativität? Wann waren Sie das letzte Mal kreativ?
Ich habe heute Morgen schon an meinem neuen Buch gearbeitet. Ich glaube, ohne ein gewisses Mass an Kreativität geht das nicht.

Was ist Kreativität für Sie?
Es gibt keine feste Definition des Begriffs. Auch die Mafia ist zum Beispiel kreativ in ihren Geschäftsmethoden.

Will heissen?
Kreativität ist ziemlich viel. Aber im Kern bedeutet Kreativität, Dinge neu zu kombinieren, zu variieren. Das macht Kreativität aus.

Können wir das heute noch?
Das eigene Verhalten zu ändern, Dinge einmal anders anzugehen, ist eine der wichtigsten Formen der Kreativität. Doch wenn wir unsere Gesellschaft anschauen, so gelingt es nur den wenigsten, aus ihren eingefahrenen Verhaltensmustern herauszukommen. Nehmen wir das Klimabeispiel: Es ist faszinierend zu sehen, wie viele Menschen sich nicht von ihrem SUV verabschieden können, obwohl sie wissen, dass sie ein klimaschädliches Auto fahren. Das zeigt: Die persönlichen Bedürfnisse und Gelüste, um Teil einer sozialen Schicht zu sein, sind wichtiger als die Zukunft des Planeten.

Fassen wir zusammen: Die Politik ist resigniert, die grossen Denker beschäftigen sich mit Daten anstatt mit Visionen, der Mensch ist ein Egozentriker mit allerlei Gelüsten und wenig Verantwortungssinn für die Allgemeinheit. Kann uns die künstliche Intelligenz helfen, wieder in die Gänge zu kommen?
Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird uns die künstliche Intelligenz letztlich nichts nützen. Denn der technische Fortschritt und die Erfordernis zur Nachhaltigkeit sind eigentlich nie ernsthaft zusammen gedacht worden. Weder damals, als die Dampfmaschine erfunden wurde und die erste industrielle Revolution losging, noch heute bei der Entwicklung künstlich intelligenter Maschinen. Seit je hat sich die Menschheit ihren Fortschritt auf Kosten der Natur erkauft.

Findet nicht langsam ein Umdenken statt?
Wir sehen, dass gesetzliche Regelungen geschaffen werden, damit es unattraktiv wird, Energie zu verschwenden. So zum Beispiel bei den CO2-Emmissionen. Für diesen Bewusstseinsschritt haben wir vierzig Jahre gebraucht. Diesen Weg müssen wir viel strikter gehen – und die Kosten, die wir der Natur abnötigen, überall einpreisen. Nur das führt zu einem Mentalitätswandel. Nochmals vierzig Jahre haben wir nicht. Schon heute können wir nur noch Schadensbegrenzung betreiben.

Wir brauchen also einen Mentalitätswechsel. Wie geht das, wenn wir gleichzeitig möglichst viele Arbeiten und Probleme an Maschinen übergeben? Autos fahren selbst, Drohnen bringen Pakete, 3-D-Drucker bauen Häuser. Schafft sich der Mensch ab?
Er macht sich das Leben komfortabler – und langweiliger. Und bezahlt dafür einen enorm hohen Umweltpreis. Denn: Endziel der Digitalisierung ist nicht der individuelle kreative Mensch. Sondern derjenige, der zu Hause auf dem Sofa sitzt, in virtuelle Welten abtaucht und allerhand Dinge bestellt. Es geht darum, dass alles sofort verfügbar ist. Wir leben in einer Kultur der Sofortness; keiner muss mehr warten oder irgendwo hingehen.

Also schaffen wir uns indirekt doch ab: Uns fehlt die kreative Umsetzung, zudem werden wir faul, einfältig, antriebslos.
Bei vielen wird die Neugierde mit dieser Entwicklung abgetötet. Und damit erstickt auch die Kreativität. Denn ohne Neugierde gibt es keinen Grund, kreativ zu sein. Das ist etwas, was in unserer Bildungskultur untergeht – obwohl es eigentlich im Mittelpunkt stehen sollte.

Liegt das Schicksal des Menschen in den Händen der Maschinen?
Ohne den Menschen würden die Maschinen keine Macht gewinnen – sondern vor sich hin rosten. Es ist denkbar, dass sich Maschinen möglicherweise in bestimmten Teilbereichen verselbständigen können – doch dass sie die Weltherrschaft übernehmen, ist Blödsinn.

Und doch treffen etwa beim Hochfrequenz- handel an der Börse heute Algorithmen die Entscheidungen. Auf welcher Basis sie dies tun, können nur noch ganz wenige Menschen nach- vollziehen. Ist das nicht gefährlich?
Dieses System könnte sich in der Tat verselbständigen – das ist richtig. Vielleicht könnten sie sogar einen riesigen Börsencrash auslösen, aber Maschinen werden niemals Kinder zeugen, Waffen herstellen oder die Menschheit ausrotten.

Was kann der Mensch sonst noch, was die Maschine nicht kann?
Menschen treffen oft merkwürdige Entscheidungen. Mal sind sie lustlos, mal motiviert. Das macht uns zu Menschen. Oder denken Sie an Paarungsgelüste, Leidenschaft, Charme, Witz, Humor. Diese Eigenschaften will die künstliche Intelligenz gar nicht ausbilden. Sie soll rational sein, um die Probleme zu lösen, für die sie da ist. Das heisst: Nur ein kleiner Teil des Menschseins ist überhaupt interessant für die künstliche Intelligenz.

Und trotzdem soll die künstliche Intelligenz auch die Maschine kreativ machen. Ein Beispiel: Ein Computer hat kürzlich «gemeinsam» mit dem Künstler Philippe Starck einen Stuhl gestaltet.
Wir haben keinen Mangel an guten Stühlen. Ich halte das für einen Werbegag.

Nun: Andere gehen noch weiter und sprechen von der Vision der «spirituellen Maschine». Geht es nach ihnen, macht die künstliche Intelligenz dem Menschen auch seine Feingeistigkeit und seine Sinnlichkeit streitig: In den Nieder- landen finanzieren eine Bank und Microsoft ein Projekt, das unzählige Daten aus den Gemälden von Rembrandt sammelt – und den Maler so mittels künstlicher Intelligenz wieder zum Leben erwecken will.
Klar, das geht. Aber so etwas braucht kein Mensch. Gerade in der Rezeption von Kunst spielt es eine grosse Rolle, dass sie von Menschen gemacht ist. Es geht darum, wie wir sozusagen den Geist von Rembrandt in seinen Bildern erkennen. Das gelingt uns, weil wir etwas über sein Leben, seine Melancholie wissen. Wenn das alles wegfallen würde und ich wüsste, dass das Gemälde von einer Maschine gemacht wurde – dann würde es mich nicht mehr interessieren. Denn es ist das Menschliche an der Kunst, das uns berührt. Versuchen wir, das Menschliche künstlich nachzubilden, ist das völlig langweilig und entsetzlich banal.

Sie sagen, die künstliche Intelligenz könne nicht in den Kern des Menschlichen vordringen. Dennoch wird sie weitreichende Implikationen für unsere gesellschaftliche Entwicklung haben.
Das ist richtig. Das gesellschaftliche Versprechen der künstlichen Intelligenz ist es, den durchschnittlichen Menschen weitgehend vom Denken zu befreien. Man muss über viele Dinge nicht mehr nachdenken, wenn man vollständig von klugen Maschinen abhängig ist. Für Menschen, die das reizvoll finden, wird das so kommen. Gleichzeitig verdienen die Konzerne mit den Daten dieser Menschen Fantastilliarden. Das ist der grosse Deal, der hinter dem Versprechen der künstlichen Intelligenz steht.

Was machen wir dann von morgens bis abends?
Die künstliche Intelligenz befreit den Menschen von vielen Routinetätigkeiten. Sie schafft damit langfristig die Notwendigkeit für die Menschen in den Industrieländern ab, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten. Vielleicht wird es schon in den nächsten Generationen so sein, dass ein Grossteil der Menschen in unserer Gesellschaft nicht mehr für Geld arbeiten muss.

Das Modell der Lohnarbeit existiert seit über zweihundert Jahren. Es ist das Fundament der Wohlstandsgesellschaft. Kann der heutige Mensch ohne Arbeit glücklich sein?
Die alten Griechen – denken Sie an Sokrates oder Platon – haben alle nicht für Geld gearbeitet. Im Gegenteil: Der freie griechische Mann war frei, weil er nicht arbeiten musste. Gearbeitet haben die Frauen, Sklaven und Ausländer. Die Konditionierung der letzten zweihundert Jahre ist überwindbar, wenn man die sehr alte Menschheitsgeschichte betrachtet. Menschen lebten früher als Naturvölker und später als Bauern, die hart ackerten, um zu überleben. Dafür gab es kein Geld. Heute sitzen wir im Büro, bekommen Geld dafür – und nennen das Arbeit. Zoomen wir genauer heran, sehen wir, wie widersprüchlich dieser Arbeitsbegriff eigentlich ist.

Was wird aus uns werden, wenn die Arbeit nach unserem heutigen Verständnis wegfällt?
Arbeit fällt nicht weg. Aber die Lohnarbeit wird weniger. Es wird von unserer Kultur und unserer Bildung abhängen, ob wir uns durch die künstliche Intelligenz höher entwickeln werden – oder ob wir ein Volk von Gamern werden, das in virtuelle Welten abdriftet und sich den ganzen Tag bespassen lässt.

Wie sieht Ihr Alltag in zwanzig Jahren aus?
Vermutlich ziemlich ähnlich wie heute, falls ich entsprechend fit bleibe.

Wir leben in der Wohlstandsgesellschaft. Wie sieht es in der restlichen Welt aus?
Die Arbeit stirbt zuerst in den Entwicklungsländern aus. Die Oxford-Studie über die Zukunft der Arbeit hält es für möglich, dass in fünfzehn Jahren in Indien oder China siebzig Prozent der heutigen Jobs verschwinden, in Ländern wie Äthiopien sollen es sogar über achtzig Prozent sein – während wir in Europa dann noch etwa die Hälfte der gegenwärtigen Jobs zählen. Selbst wenn die Zahlen so sicher nicht stimmen – die Tendenz gibt zu denken.

Ein Beispiel?
Wenn Sie in Afrika davon leben, Nutztiere weiden zu lassen, und wir in unseren Breitengraden Fleisch im Labor züchten, dann haben Sie bald nichts mehr zu tun. Auf diese Weise werden ungezählte Formen des Nahrungserwerbs verschwinden. Die Frage ist, wovon diese Menschen dann leben werden. Von einem bedingungslosen Grundeinkommen wohl kaum. Da sehe ich gewaltige Probleme auf die Menschheit zukommen. Bei uns stellt sich die Situation anders dar. Jobs für Hochqualifizierte gibt es weiterhin, dazu sehr viel Arbeit in Empathie- und Pflegeberufen. Maschinen generieren überdies so viel Wohlstand, dass es nur eine Verteilungsfrage ist, dass jeder genug bekommt. In den meisten Regionen der Welt ist das aber nicht der Fall.

Wie werden wir diese soziale Kluft überwinden können?
Das ist die grosse globale Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen. Sie ist die wahre Bombe, die tief vergaben ist. Sie müssen wir entschärfen. Wir haben dabei ein vitales Eigeninteresse, dass die afrikanischen Länder nicht noch ärmer werden. Denn wir wollen verhindern, dass sich noch mehr Migranten auf den Weg nach Europa machen.

Das sind düstere Aussichten: Sie machen fast der Hollywood-Filmindustrie Konkurrenz. Übertreiben Sie nicht etwas?
Nein, das ist äusserst realistisch. Die Migrationswellen sind doch längst da, und der Klimawandel heizt den Drang und Zwang zur Migration noch weiter an.

Wie überwinden wir diese Probleme?
Wir überwinden sie nur, wenn wir kreativ genug sind, um fundamentale Veränderungen vorzunehmen. Dabei müssen wir endlich einsehen, dass der Neoliberalismus am Ende ist. Der Markt löst von sich aus kein einziges der genannten Probleme. Wir brauchen langfristige politische Strategien, die konsequente Anwendung von Ordnungsrecht und internationale politische Zusammenarbeit, die nicht vor Lobbys einknickt.

Wie kann jeder Einzelne seine Kreativität künftig sinnstiftend einsetzen? 
Es sollte schon jeder selbst so kreativ sein, den besten Einsatz für seine Kreativität zu finden.

RICHARD DAVID PRECHT Ist Philosoph und Publizist. In seinem Buch «Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens» (2020) setzt er sich kritisch mit der Digitalisierung auseinander. Precht ist zudem Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana-Universität Lüneburg sowie an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin.

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