Mag schon sein, dass ich an einem speziellen Datum geboren bin (den 29. Februar gibt es halt nur alle Schaltjahre mal), auf alle Fälle, habe ich an diesen Tag fast immer etwas Aussergewöhnliches erlebt.
Als ich 24 wurde, organisierte ich in meinem Atelier in Zermatt, welches sich im alten Dorfkern in einem traditionellen Valser Haus befand, eine Party. Viele Freunde kamen und die Stimmung war perfekt. Zu später Stunde entschlossen wir uns, noch in einen Club tanzen zu gehen. Diverse Leute hatten Kuchen und Torten mitgebracht und so hatten wir am Ende noch einen ganzen Kuchen übrig. Ich nahm ihn einfach mit und verteilte das Geburtstagsdessert im Club an die Gäste.
Vier Jahre später, ein weiterer Geburtstag. Gleicher Ort, nahezu die gleichen vielen Freunde und am Ende genau die gleiche Situation mit dem Kuchen! In der Zwischenzeit hatte ich das «Vernissage» eröffnet. Ich dachte, ich bringe den Kuchen meinen Angestellten, die nicht an das Fest kommen konnten, weil das «Vernissage» an dem Abend natürlich geöffnet war. Sowieso wollte die ganze Geburtstagsrunde dorthin, weil mein Freund und Sänger Dan Daniel auf der Bühne noch eine kleine Show zu bieten hatte. So verließen alle das Atelier, welches sich im ersten Stock des alten Hauses befand und über eine Außentreppe zur Straße hin erschlossen war. Die Gruppe wartete auf der Straße, als ich als letzter mit dem Kuchen auf einem silbernen Tablett auf dem Balkon erschien. Mit einer Hand schloss ich die Tür, mit der anderen hielt ich akrobatisch wie ein Profikellner den Kuchen hoch über meinen Schultern. Als ich da so stand, fing die Menge an zu schreien: «Schiess ihn... Schiess ihn... Schiess ihn...» Ich schaute hinunter, was sie offensichtlich noch mehr befeuerte: «Schiess ihn... Schiess ihn... Feigling! Feigling!» Wohl keiner der dort Anwesenden hätte es für möglich gehalten – ich selbst am wenigsten – aber ich tat es. Ich warf den Kuchen auf die Menge.
Totenstille herrschte auf einmal. Meine Freunde waren perplex. Man spürte förmlich, wie sie dachten: Das kann ja wohl nicht sein, dass er ihn tatsächlich auf uns geworfen hat. Manche sprachen diesen Satz auch aus, wobei sie sich gegenseitig die Schwarzwälder-Reste von den Schultern wischten.
Ich selber stand wie begossen da. In dem Moment wurde mir bewusst, was aus mir geworden war. Die Szene entsprach genau der Situation, in welcher ich mich zu der Zeit befand. Vor kurzem hatte ich das «Vernissage» eröffnet. Tausende kamen, Hunderte erteilten mir Ratschläge, wie ich den Betrieb zu führen hätte, wen ich nun ausstellen sollte, welche Konzerte ich unbedingt veranstalten sollte und so weiter. Ich war einfach nicht mehr ich selber, sondern ließ mich sehr leicht beeinflussen, und machte auch Sachen, hinter denen ich einfach nicht zu 100 Prozent stehen konnte.
Jetzt stand ich also da und schämte mich wie ein Kind. Was sollte ich tun? Verzweifelt lief ich die Treppe hinunter, und entschuldigte mich bei jeder einzelnen Person. Und zwar den restlichen Abend und die Nacht lang entschuldigte ich mich und entschuldigte mich, bis es den Freunden beinahe zu nervig wurde, und sie sagten: «Hör jetzt auf Heinz, es ist schon gut, es ist ja nicht so schlimm. Komm lass uns feiern!» Mir war aber gar nicht mehr nach feiern zumute, im Gegenteil, mein Geburtstag war ruiniert.
Später wechselten wir noch in ein anderes Nachtlokal. Die Partygesellschaft tanzte voll ab, ich hingegen saß an der Bar und war traurig. Wie könnte ich das bloß wieder gut machen? Plötzlich, gegen drei Uhr früh, hatte ich eine Idee. Ich verließ den Club, ohne mich von irgendjemandem zu verabschieden. Dann ging ich zurück in mein Atelier, holte einen Teller und einen Löffel und kehrte wieder zurück auf die Straße, wo noch der Kuchen seitlich im Schneematsch, durchmischt mit Pferdescheisse und Kieselsteinen, lag. Ich löffelte die Kuchenstücke auf den Teller, stieg die Treppen hoch ins Atelier, zündete mir eine Kerze an und aß die ganze «Scheisse» auf!
Es war total ätzend und wurde dennoch zu meinem schönsten Geburtstag. Ich hatte es geschafft, etwas, was ich mir selbst eingebrockt hatte, irgendwie wieder «auszulöffeln». Vor allem aber hatte ich mir selbst das schönste Geschenk gemacht: Ich hatte realisiert, wo ich stand, und was aus mir werden sollte.
HEINZ JULEN ist zwar tief verwurzelt in Zermatt, doch als Designer, Künstler und Visionär weit über die Schweizer Landesgrenzen hinaus bekannt.
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