Winners
NOT FOUNDMENU
Img

Der Plot

Sowohl im Kino als auch in der Werbung ist die Handlung oft das dominierende Mittel, das die erzählten Geschichten und die Art und Weise, wie sie konsumiert werden, prägt.

Pierre Momnard

share

linkedinwhatsapp
small image

Doch sowohl im Kino als auch in der Werbung werden durch die Handlungsorientierung die Möglichkeiten des Geschichtenerzählens eingeschränkt. Die Betonung von Kohärenz und Auflösung der Handlung kann Kreativität ersticken und das Experimentieren mit alternativen Erzählformen verhindern. Durch das Festhalten an formelhaften Strukturen und vertrauten Tropen riskieren die Erzählenden, dass ihre Geschichten vorhersehbar und abgeleitet wirken.


Man denke nur an das Marvel Cinematic Universe, ein umfangreiches Film-Franchise, das für seine miteinander verknüpften Stories und großen Spektakel bekannt ist. Obwohl das MCU für seine ehrgeizige Erzählweise gefeiert wird, steht es auch in der Kritik, weil es das Zusammenspiel der Handlung auf Kosten der Charakterentwicklung und der thematischen Erkundung in den Vordergrund stellt. Jeder Film folgt einem vorhersehbaren Bogen von Konflikt, Höhepunkt und Auflösung, wobei oft auf bekannte Szenarien und Formeln zurückgegriffen wird, um die Kontinuität zu wahren.


In der Werbung ist die Situation ähnlich. Es werden gern dieselben handlungsorientierten Erzählstrukturen eingesetzt, um Produkte zu bewerben und Konsumideologien zu untermauern. Ein ikonisches Beispiel für diesen Ansatz sind die Marketingkampagnen von Coca-Cola. Deren Werbespots zeigen häufig unterschiedliche Menschen, die sich um eine Cola versammeln, und betonen Themen wie Einheit, Glück und gemeinsame Erlebnisse. Obwohl diese Spots auf den ersten Blick ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln, dienen sie letztlich nur dazu, das Image der Marke zu stärken und die Loyalität der Verbraucher zu fördern, ohne ein echtes Engagement auszulösen.


Sowohl im Kino wie auch in der Werbung gäbe es aber auch andere Ansätze.


Ein Film wie «Anatomy of a Fall» verwandelt zum Beispiel eine Plot-Schwäche in seine stärkste Waffe. In Justine Triets Palme d'Or-Gewinner wird die entscheidende Frage, wer den Ehemann getötet hat, nie beantwortet. Diese fehlende Auflösung ist das Herzstück der Erzählung und gibt jedem Zuschauer die Möglichkeit, seine eigene Version des Films zu erschaffen. Ähnliches lässt sich über «The Zone of Interest» sagen. In Jonathan Glazers Auseinandersetzung mit den Vernichtungslagern wird das Grauen nur angedeutet, aber nie gezeigt, was zu einem der fesselndsten Kinoerlebnisse der letzten Jahre führt.


Das Fehlen eines Plots bezieht den Zuschauer in das Filmerlebnis ein und macht ihn nicht zum passiven Konsumenten (Beobachter), sondern zum Akteur der Geschichte.


Das gilt auch für Werbung. Schauen Sie sich an, was Orange France letztes Jahr mit seiner Kampagne über Les Bleu(e)s gemacht hat. Der Telekomriese nahm die klassische Trope der Fußballwerbung und stellte sie auf den Kopf. Durch den Einsatz modernster AI-Technologie wurde der Betrachter dazu gebracht, seine Meinung über Frauenfußball zu überdenken und die Legitimität eines verbreiteten Vorurteils infrage zu stellen: Männerfußball ist spektakulär, Frauenfußball nicht.


Natürlich: Die Handlung bleibt weiterhin ein Eckpfeiler in der Welt des Films und der Werbung. Doch indem Kreative an deren Vorherrschaft rütteln und alternative Erzählmethoden anwenden, können sie sich neue Möglichkeiten für die Erforschung von Geschichten eröffnen und vielfältigere und authentischere Ergebnisse zutage bringen.


Im Kino können Filmemacher mit nichtlinearen Erzählungen, unzuverlässigen Erzählern und anderen unkonventionellen Techniken experimentieren, um die Erwartungen des Publikums zu unterlaufen und ein tieferes Engagement anzustoßen. Und in der Werbung können Kreative authentischere und sozialere Ansätze für ihre Geschichten wählen und sich von formelhaften Plots und produktorientierten Botschaften entfernen.


Für beide Sparten gilt: Durch die Betonung echter zwischenmenschlicher Beziehungen, glaubhafter Charaktere, gesellschaftlicher Verantwortung und ethischer Werte vermögen wir es auch ohne klassische Plotstruktur Werke zu erschaffen, die das Publikum auf einer tieferen Ebene ansprechen, emotional mitnehmen und einen positiven Wandel anregen.


PIERRE MONNARD ist vielfach ausgezeichneter Film- und Fernsehregisseur u.a. Swapped, Platzspitzbaby, Wilder, Bisons. Als Werberegisseur arbeitete er für Kunden wie MTV, Stella Artois, LVMH, Warner, Sony, Universal

Weitere Artikel

Footer Logo