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Mehr "idiotische" Werbung, bitte

In seinem grossen Roman «Der Idiot» erschafft Fjodor Dostojewskij eine Figur, von der man auch 155 Jahre später viel lernen kann. Gerade wir Werberinnen und Werber sollten uns den Antihelden Fürst Myschkin genauer anschauen.

Thomas Schöb

2024

Thomas Schöb ist freier Texter - er mag lange Romane und kurze Briefings
Thomas Schöb ist freier Texter - er mag lange Romane und kurze Briefings
Thomas Schöb

Schon auf der dritten von über achthundert Seiten, schon angesichts der erstbesten Gesprächspartner im Zug nach Sankt Petersburg lässt Dostojewskij der umwerfenden Ehrlichkeit seines «Idioten» freien Lauf: «Das Gespräch kam in Gang. Die Bereitwilligkeit des blonden jungen Mannes im schweizerischen Umhang, auf alle Fragen seines schwarzhaarigen Nachbarn zu antworten, war erstaunlich. Dabei schien er gar nicht zu merken, wie herablassend manche Fragen gestellt wurden, wie unpassend und überflüssig sie waren. Er berichtete unter anderem, dass er wirklich lange nicht in Russland gewesen sei, über vier Jahre, dass er seines Leidens wegen ins Ausland geschickt worden sei, eines merkwürdigen Nervenleidens, so etwas wie Epilepsie oder Veitstanz, mit Zuckungen und Krämpfen. Der Schwarze hörte zu und lachte einige Male; besonders laut lachte er, als auf die Frage, ob man ihn denn geheilt habe, der Blonde antwortete: Nein, man habe ihn nicht heilen können.» Eine Regisseurin hat mir einmal verraten, dass wir auf verletzliche Filmfiguren besonders positiv reagieren. Offenbar wusste das schon Dostojewskij, denn verletzlich ist dieser Fürst Myschkin weiss Gott – und er fasziniert die Lesenden sofort. Erinnern wir uns doch an diesen Umstand, wenn wir im nächsten DreissigSekundenSpot einen Charakter entwickeln sollen, der uns schon nach zehn Sekunden sympathisch sein soll. Vergessen wir dabei aber die Geradlinigkeit nicht. Umschweife sind Fürst Myschkin völlig fremd: Entweder er redet geradeaus oder er sagt gar nichts. Letztlich ist es denn auch der Mangel an taktischem Gespür, an effektvollen Übertreibungen, ja der Mangel an jeglicher Fähigkeit, sich zu verstellen, die von der gehobenen Petersburger Mittelschicht als idiotisch bezeichnet wird. Dabei ist dieser Idiot durchaus beliebt. Dass er komplexe Situationen messerscharf analysieren und in rasanter Rede auf den Punkt bringen kann, bringt ihm Respekt ein. Und wenn er diesen Respekt auch gleich wieder verspielt, weil er seine Ausführungen meistens im falschen Moment von sich gibt, so erreicht Fürst Myschkin das, worum wir immer wieder ringen, mit Leichtigkeit: die maximale Awareness. Besondere Aufmerksamkeit erregt Fürst Myschkin bei den Frauen. Die konsequente Abwesenheit von Grossspurigkeit, das komplette Fehlen eines Pokerface fasziniert insbesondere die beiden anspruchsvollsten Frauenfiguren des Romans, Nastasja Filipowna und Aglaja Iwanowna. Beide Charaktere schillern übrigens so wunderbar, dass sich schon alleine dafür das Durchpflügen des Romans lohnt. Tatsächlich reüssiert der Idiot bei beiden Frauen, bis hin zu aussichtsreichen Heiratsanträgen. Dass beide Anträge scheitern, der zweite in einem grausamen Finale, liegt letztlich weniger an Fürst Myschkin selber. Es liegt vor allem an der Petersburger Society des 19. Jahrhunderts. Heute sind wir glücklicherweise weiter. Ehrlichkeit, Geradlinigkeit und Verletzlichkeit werden nicht mehr als Zeichen der Idiotie gedeutet. Bescheidenheit ist nicht mehr das Attribut von Losern. Heute sind wir weiter – oder sollten es sein. Es kann nicht schaden, wenn wir uns beim Entwickeln der nächsten Kampagne an Fürst Myschkin erinnern. Vielleicht überlegen wir es uns dann zweimal, ob wir ein etwas weniger ressourcenverzehrendes Kaffeekapselsystem als grösste Innovation in der Unternehmensgeschichte ankündigen, um es in der Werbung dann auch gleich noch über das EUweite Verbrennermotorenverbot für Autos ab 2035 zu stellen. Vielleicht überlegen wir es uns dann zweimal, ob wir in jeder, wirklich jeder Werbekampagne für EAutos gleich ein neues Zeitalter ausrufen müssen. Vielleicht überlegen wir es uns zweimal, ob es angemessen ist, HandyAbonnent: innen aufzufordern, Grosses zu träumen und Grosses zu tun. Vielleicht ist den Menschen der unprätentiöse Fürst Myschkin ja näher. Und vielleicht ist der kategorische Superlativ der wahre Idiot.

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