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Es lebe der Synapsenrülpser

Als ich anfing, in der Werbung (das hiess damals so) zu arbeiten, ging ich gerne auf Kongresse (das hiess damals so), um Leuten bei ihren Vorträgen (das hiess damals so) zuzuhören. Alle hatten durch die Bank weg Spass. Die Vortragenden. Die Zuhörer. Die Branche

Götz Ulmer

2021

Jedes neu hinzukommende Tool wurde gefeiert: Photoshop, das Internet, Final Cut, Google-Bildersuche, Blender, kurz: die Demokratisierung professioneller Tools für alle. Ein Füllhorn neuer, wunderbarer Werkzeuge, die als das gesehen wurden, was sie waren: neue, wunderbare Werkzeuge mit der Hoffnung auf mehr. Niemand orakelte: «Wer Google nicht beherrscht, wird nie wieder ein Foto finden.» Oder: «Firmen wie Getty wird es nicht mehr lange geben, da jetzt alle ihre Fotos im Netz zur Verfügung stellen können.» Oder gleich ganz fatalistisch: «Fotosuche wird es bald überhaupt nicht mehr geben!»

Das hat sich (neben allem anderen) in den letzten Jahren komischerweise gründlich geändert. Plötzlich haben sich Tools und technischer Fortschritt durch besserwisserische Evangelisten zu Protagonisten in Endzeitszenarien entwickelt. Sie sind immer noch irgendwie nützlich, aber gefährlich: «Euer iPhone kann jetzt schon mehr, als ihr jemals konntet!» «Nur 17-Jährige können Tiktok verstehen.» In letzter Zeit häufig: «Fotosuche, Moodfilmhersteller, Conceptual Artists, Long- copywriter und 3-D-Animatoren werden bald durch Maschinen ersetzt.» Oder ähnlich gelagerter Mumpitz. Doch die Schwarzseher kommen damit durch. Diese Ausrufer des Untergangs verbinden ihre Tiraden gern mit dem Schlagwort künstliche Intelligenz (nun, da uns das alte Schockwort Daten irgendwie nicht mehr so bibbern lässt, weil wir diese jeden Tag als extrem sinnvolles Präzisionswerkzeug erleben). Wird der Blick in die Zukunft nur deshalb so emotional aufgeladen, weil Kreativität (oder besser: Phantasie) die letzte Bastion des Menschseins und dessen Sinnstiftung vor der Kapitulation gegenüber den Maschinen ist? Aber stimmt das denn?

Zahlreiche Kreative und deren Kunden erfreuen sich an AI-Tools, die jeden Tag neu und – zugegebenermassen – laufend beeindruckender werden. Algorithmen können in Sekundenschnelle Soundalikes aus allen existierenden Songs dieser Welt oder anderssprachige Sprecher mit derselben Tonalität wie beim deutschen Original heraussuchen, beliebige Satzanfänge zu wunderbar verrückten Geschichten weitererzählen, Sprachen endlich atemberaubend gut übersetzen, Landschaften in Spiele-Engines völlig eigenständig erstellen und texturieren, CGI-Konterfeis perfekt anhand von Audiodateien animieren und damit nicht existierende und somit lizenzfreie Gesichter generieren, für ein und denselben Gegenstand hundert Gestaltungsvarianten ausspucken und adrett arrangieren und tausend andere Dinge mehr. Ach ja: Dieser Absatz ist jetzt, wo Sie ihn gelesen haben, schon wieder veraltet.

Das alles klingt toll, aufregend, unterstützend und inspirierend.

Wird es also eine Eskalation von Kreativität – auch ausserhalb unserer Branche – geben, wie es viele prophezeien? Werden die immer besser werdenden Hilfsmittel immer mehr Menschen dazu befähigen, immer kreativer zu werden? Gegenfrage: Hat es eine Eskalation von besserer, originellerer Musik gegeben, seit sie durch die Demokratisierung von Profiwerkzeug überall von jedem herstellbar ist? Eben.

Erst Leute wie das Geschwisterpaar O’Connell (Billie Eilish und Finneas O’Connell, mittlerweile mit sieben Grammys ausgezeichnet, Anm. d. Red.) machten aus einem Schlafzimmer und einem iMac (die Millionen Schlafzimmern von Komponisten, Musikern, Produzenten und Wannabees und ihren iMacs gleichen) eine Brutstätte neuer Sounds und ungehörter Ideen. Ihr einziges Unterscheidungsmerkmal: Talent. Hingabe. Leidenschaft. Intuition. Und vor allem: Zufall. Und Lust am Ausprobieren. Akustische Signale für Sehbehinderte, gesampelt mit dem iPhone an einer australischen Fussgängerampel, wurden flink groovetreibend eingesetzt zu einem Charterfolg. Hätte die Maschine das gekonnt? Beziehungsweise vermenschlicht gesagt: Wäre die Maschine auf dieselbe Idee gekommen?

KREATVITÄT

Google vs. Mensch
Google vs. Mensch
AdobeStock, Unsplash: Kelly Sikkema

ENERGIE

Google vs. Mensch
Google vs. Mensch
Unsplash

ERFOLG

Google vs. Mensch
Google vs. Mensch
Unsplash

Jeder, der sich einmal mit künstlicher Intelligenz auseinandersetzt, weiss eines: Die Maschine ist schnell und effizient, was bedeutet, sie wird uns viel gehasste Arbeit und mühsame, gar unstemmbare Prozesse abnehmen und sehr viel Zeit und Geld sparen. Und sie ist unfassbar «dumm». Selbst wenn sie uns ein Ergebnis präsentiert, das wir für beeindruckend halten, als einfühlsam erachten, das uns menschlich, ja sogar talentiert dünkt, hat die Maschine weder verstanden, was sie da getan hat, noch, wieso.

Das letzte Glied ist also auch heute noch der (angstlose) Mensch. Als Korrektiv für (noch) vorhandene Fehler, aber eben noch wichtiger und auch künftig unersetzbar: als Kurator. Er beurteilt und selektiert: Ist das, was die Maschine ausspuckt, schlecht oder gut? Mainstream oder disruptiv? Genau richtig oder seiner Zeit voraus? Gekonnt verstörend oder einfach nur Schrott?

Nehmen wir also an, dass Maschinen immer besser Kreativität werden emulieren können, und zwar eklatant besser als der hochgelobte Roboter, der ein Bild im Stil eines Menschen malen konnte, der das vor 400 Jahren schon konnte (der Fälscherkönig Beltracchi lacht sich darüber heute noch schlapp), und sich die Grenzen zwischen menschlichen Schöpfungen und denjenigen von Maschinen immer mehr auflösen und nicht mehr so einfach dechiffrierbar sein werden. Oder wie die Stripperin in «Blade Runner» auf Deckards Frage «Ist das eine echte Schlange?» lapidar entgegnet: «Natürlich ist die nicht echt. Glauben Sie, ich würde in einem solchen Loch arbeiten, wenn ich mir eine echte Schlange leisten könnte?»

Wenn wir demnach den Output von Mensch oder Maschine vorgesetzt bekommen und selbst beurteilen müssen, ob wir ihn a) konsumieren und b) wie wir ihn finden, dann dringen wir zu des Pudels Kern vor.

Ist es mir egal, ob mein nächster spannender Sommerkrimi von einem Relaisgehirn geschrieben wurde? Ja. Weil seichte Kost eben genau das bleibt, unabhängig vom Kreateur.

Wäre es verwunderlich, wenn die neue Nummer 1 der internationalen Charts, statt von der Mensch gewordenen Akkordformel Max Martin, von einem Rechner konzipiert, komponiert, arrangiert und produziert worden wäre? Nein. Schrott bleibt Schrott, ob digital oder analog generiert.

Macht es mir Angst, wenn KI nun Werbespots machen kann? Nein.

Beunruhigt es mich, dass Kreative immer öfter am Fliessband Dinge produzieren, die in ihrer Machart so leicht durch KI nachzuahmen sind? O ja!

Würde ich einen digitalen Ausdenkpartner befremdlich finden, wenn er mit mir Ideen-Pingpong spielte? Im Gegenteil. Vielleicht ist der Algorithmus sogar fehlerhaft, und man kommt durch das Umdenken auf wirklich neue Ideen.

Denn echte Kreativität wird nach wie vor stets das sein, was nicht emuliert werden kann. Nicht vorhergesehen werden kann. Etwas, das unberechenbar ist. Selten erzwingbar. Nicht vergleich- oder nachprüfbar. Nicht linear. Oder im Ursprung eben schlicht sinnlos. Ein Synapsenrülpser.

Und damit eine der sinnvollsten Beschäftigungen, denen wir uns widmen können.

GÖTZ ULMER liebt Maschinen, hält Menschen aber für genialer. Der Vollblutkreative arbeitete sich vom Junior AD hoch bis in den Vorstand bei Jung von Matt in Hamburg und ist heute CCO der McCann Worldgroup in Deutschland.

An dieser Stelle empfehle ich sieben Übungen auf dem Weg zum sinnbefreiten Handeln und Wirken abseits der täglichen Routinen und
hocheffizienten Home-Office-Sessions (zu erledigen bis zur vierten Welle):


1 Rufen Sie spontan jemanden an, mit dem Sie nie wieder reden wollten. Profi-Challenge: Versuchen Sie das Wort Neurologenkongress einzubinden.

2 Organisieren Sie mit fünf zufällig ausgewählten Kolleginnen und Kollegen einen 30-minütigen Team-Call, und füllen Sie ihn nur mit Belanglosigkeiten, blöden Witzen und lautstarken Diskussionen über «Hast du das gelesen/gesehen . . .?».

3 Wählen Sie auf Ihrer TV-Fernbedienung eine zufällige Zahl zwischen 1 und 1000, und schauen Sie dem Programm mindestens eine halbe Stunde lang zu. Teilen Sie die Erfahrungen (siehe Team-Call).

4 Tauschen Sie Ihren Youtube- oder Netflix-Account mit einem anderen Menschen (oder melden Sie sich schlichtweg ab), und geniessen Sie eine aufregende Zeit ausserhalb Ihrer voraussagbaren Persönlichkeitsblase.

5 Da liegt es, Ihr perfektes Manifesto-Skript. Der CD wird es lieben. Der GF auch. Und der Kunde noch mehr. Perfekt. Löschen Sie es! Fangen Sie lieber damit an, etwas zu machen, was richtig gut ist.

6 Besuchen Sie statt Spotify lieber einmal Forgotify.com (dort werden in zufälliger Reihenfolge nur Songs abgespielt, die noch nie angehört wurden, immerhin fast eine Million), und machen Sie was draus.

7 ............................................................................................ (bitte ausfüllen)
 

Nur für Sie.