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Geständnisse eines Werbemannes

War die Werbung einst ein gemütliches Männerbiotop mit Frauen in zudienenden Rollen, wird von heutigen Agenturen geschäftsmässiges Verhalten und eine vernünftige Repräsentation von Frauen auf allen Ebenen erwartet. Ein Kommentar über die Entwicklung der Branche.

HG Hildebrandt

2023

Der KI-generierte Prototyp des alten, weissen Werbers
Der KI-generierte Prototyp des alten, weissen Werbers
Künstliche Intelligenz

Vor vierzig Jahren gab es auf Zürichs Plakatwänden etwas Skandalöses zu sehen: den nackten Hintern einer Frau. Das Plakat wurde verboten, was für eine Menge Aufsehen und Streit sorgte. Hinter dem Verbot stand ein Stadtrat, der damit die Würde der Frau schützen wollte. Der Erfinder des Werks, Peter Marti, hat bis heute eine Agentur. Dort arbeiten in Kreativpositionen auch Frauen. Als das Plakat ausgehängt wurde, war ich 17, fünf Jahre später begann ich meine Tätigkeit als vollkommen ahnungsloser Juniortexter. Wie die Werbeszene vor vierzig Jahren aussah, kann man sich aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellen. Was einem versichert wird und woran ich mich erinnere: Es wurde viel Geld verdient und noch mehr gefeiert, was letztlich auch mich anlockte. Und die Männer herrschten über weiteste Teile der Branche für sich allein; Frauen hatten es schwer, in Schlüsselfunktionen vorzustossen, was den Anlass für diesen Text hergab. «Als ich mit 22 als Junior AD in eine damals sehr bekannte und erfolgreiche Basler Werbeagentur eintrat, schlug ich in einer absoluten Machowelt auf», erinnert sich eine Akteurin, die wesentlich früher als ich in der Branche startete. «Man liess sich einiges bieten, denn schliesslich wollte man nicht das prüde Landei sein. Es war schlicht und einfach alles sexistisch!» Das Verhalten ihres damaligen Chefs, der heute als extremer Abuser gälte und sofort gestoppt würde: absolut unmöglich, inklusive Griff an die Brüste vor versammeltem Publikum, von verschiedenen Quellen bestätigt. «Man musste schon mal einem auf die Finger hauen, wenn es klebrig wurde.» Im Gespräch bestätigt die Werberin auch Erzählungen über einen Werbeboss, der gern zu grosszügigen Bootsausflügen lud. Übrigens: «Nicht nur in der Kreation, auch in der Beratung gab es damals für Frauen keine Aufstiegschancen.» Es sei im Gegenzug vieles wesentlich spannender gewesen als in der heutigen Zeit mit der neu entstandenen Prüderie und dem Gefühl, man bewege sich konstant in einem Minenfeld. «Sujets wie das damals recht lustige Füdliplakat oder jene von Bruno Suter für Benetton für die Pariser Agentur Eldorado wären 2023 unmöglich zu realisieren.» 

Wurde verboten, weil es unter anderem «die Verkehrsteilnehmer ablenke»: Das Rifle-Plakat von Peter Marti, 1982
Wurde verboten, weil es unter anderem «die Verkehrsteilnehmer ablenke»: Das Rifle-Plakat von Peter Marti, 1982
Peter Marti

Wie die Werbeszene vor vierzig Jahren aussah, kann man sich aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellen. Was einem versichert wird und woran ich mich erinnere: Es wurde viel Geld verdient und noch mehr gefeiert, was letztlich auch mich anlockte. 

Unsere Gewährsfrau, die in diesem Text anonym bleiben möchte, machte sich mit 29 selbstständig. «Ich war nie besonders gern angestellt und wollte meine eigenen Visionen verwirklichen.» Freimütig gibt die Interviewpartnerin an, dass sie mit Kindern nie so weit gekommen wäre, wie es ihr im Verlauf ihrer Karriere gelang. Die Familie als Problem – das scheint noch Realität zu sein. Wie in den meisten anderen Branchen erreicht anscheinend eine Mehrzahl der Frauen auch in der Werbung ihr grösstes Aufstiegspotenzial oft dann, wenn sich das Zeitfenster schliesst, in dem sie Kinder auf die Welt bringen könnten. «Die biologische Uhr sollte etwas länger ticken», sagte dazu Werbelegende Danielle Lanz einmal in einem Interview mit der «Werbewoche» zum Thema Frauen und Karriere in der Werbung. Der erfüllte Kinderwunsch war in der Vergangenheit und ist bis heute für sehr viele Frauen wohl eines der grössten Hindernisse für eine Karriere im klassischen Sinn. Sei es, weil sie den Nachwuchs zu hundert Prozent selbst betreuen wollen. Oder sei es, weil sich aufgrund der aktuellen Gegebenheiten in unserem Land ein höherer Einsatz finanziell nicht lohnt; nicht einmal im Hinblick auf späteres berufliches Fortkommen. Bleibt eine Frau – in wesentlich weniger Fällen ein Mann – während einiger Jahre an zwei Tagen pro Woche für die Familie tätig, dann arbeitet man bekanntlich nicht nichts. Die zahllosen Stunden an Care-Tätigkeit könnte sich, würden sie nach Mindestlohn bezahlt, kaum ein Hundertprozent- Verdiener leisten. Hat eine Familie zwei Kinder, dauert es vielleicht sechs Jahre, bis es theoretisch zurück in ein Angestelltenverhältnis mit Vollzeitpensum ginge; aber schnelllebig wie das Berufsleben heute ist, hat bis dahin ein hohes Mass an Dequalifizierung stattgefunden. Dass derweil öffentliche Tagesschulen in der Schweiz kaum in der Breite realisiert sind, obwohl von Frauen heute erwartet wird, dass sie wirtschaftlich auch als Ehefrauen und Mütter selbständig bleiben, kann nicht anders als sexistisch bezeichnet werden. Immerhin scheitern mehr als vierzig Prozent der geschlossenen Ehen und gemäss Bundesgericht wird erwartet, dass eine Frau im Fall einer Scheidung wieder ein volles Einkommen erzielen kann, um sich zu erhalten. Wie aber soll das funktionieren?

Kalkulierter Tabubruch
Kalkulierter Tabubruch
Ein Benetton-Plakat von Oliviero Toscani, 1991

Gemäss meiner bescheidenen Meinung ist das eine absolute Ungerechtigkeit, leider jedoch begründet auf biologischen Gegebenheiten, die von Parteien mit konservativer oder klassischer Agenda (weniger Einfluss der Frauen auf das gesellschaftliche Ganze) ausgenutzt werden. Kommt noch eine im Vergleich zu Männern geringere Affinität zum Wettbewerb hinzu (siehe etwa die niederländische Studie «Gender and Willingness to Compete for High Stakes», 2020) und schon hat man den Mechanismus der «Child Penalty» erklärt, jenes automatischen Lohnabzugs, der gemäss Forschung zahlreichen Frauen in der gesamten Wirtschaftswelt widerfährt, sobald sie Mütter werden. Wie auch jeder Mann aus direkter Anschauung seines Kollegenkreises weiss, sind Kinder überdies ein Hindernis bei einer Tätigkeit, die zum beruflichen Erfolg vieler Menschen einen gleichermassen wichtigen wie schlecht messbaren Beitrag leistet – dem Networking. Wer pünktlich vor der Kita stehen muss, kann schlecht beim Feierabendbier seine Position innerhalb der Hierarchie festigen. Und wer bei Aktivitäten ausserhalb des regulären Büroalltags nicht regelmässig dabei ist, hat für die Community schlicht nicht den gleichen Wert. Man kann das vermutlich sagen, ohne verletzend zu sein. Cold Facts. Was die Werbung heute leisten muss und kann, ist möglicherweise weniger von Kunst und Kultur in spiriert und weniger lustig. Und es ist heute wahrscheinlich auch weniger lustig, in der Werbung zu arbeiten, als damals in der Epoche des Feierns und des grosszügig fliessenden Geldes. Es war in den freizügigen 90ern, als ein Kollege von mir beobachtete, wie eine Juniortexterin mir nichts dir nichts quasi vom Schoss des Texterfreundes zu dem des gewinnversprechenderen CDs wechselte. Ja. Zeiten ändern sich. Apropos Erfolg: Wie in der Medienwelt, ist Erfolg heute messbar – oder man glaubt zumindest, «gute Zahlen» würden Erfolg bedeuten. Aber wen interessiert überhaupt die Vergangenheit? Frauen sind heute mit Selbstverständlichkeit in Führungspositionen tätig und schaffen es in Chefpositionen, davon zeugen Persönlichkeiten wie Nadine Borter von Contexta, Bala Trachsel von der Republica, Regula Bührer Fecker von Rod und hoffentlich auch zahlreiche Frauen in Agenturen, deren Geschäftsfeld ich als Dinosaurier schon nicht mal mehr verstehe. Beim Nachdenken über Frauen, mit denen ich für diesen Text sprechen könnte, ist mir neben den zahllosen komplexen Aufgabenstellungen unserer Gesellschaft eines bewusst geworden: Frauen, die in der Kommunikationsbranche bekannte Führungspersonen oder High Performers wurden, sind Ausnahmefälle und haben ihren Expertinnenstatus dank überdurchschnittlichen Einsatzes und hoher Begabung erarbeitet. Die vielen anderen, die wegen der ungünstigen Voraussetzungen resigniert haben oder irgendwann aus der Branche ausstiegen, hatte ich nicht einmal auf dem Schirm. Sie hätten über die Werbung, die Medien, das Marketing als sich langsam öffnendes, einst exklusives Männerbiotop möglicherweise ganz anders Auskunft gegeben als die wenigen, die hier zu Wort kommen. Ich unterstelle jetzt auch einfach mal, dass es nach wie vor «Sitte» ist, sexistischen Belästigungen und Beschränkungen und Herabsetzungen im Alltag mit einer «sportlichen» Haltung zu begegnen und einfach daran zu glauben, dass tolle Leistungen geschlechtsneutral bewertet und belohnt werden. Aber ich schweife wohl ab – denn die Problematik der obigen Abschnitte betrifft bei weitem nicht nur die Werbebranche, sondern die gesamte Wirtschaft. Und dagegen etwas zu unternehmen, ist nur möglich, wenn das Setting fortschrittlich gestimmt ist und nicht jeder Tag in eine Masterclass im Schulterzucken ausartet. Frauen sorgten und sorgen meiner Ansicht nach dafür, dass die Werbung als Arbeitsumfeld menschlicher geworden ist – eines, in dem Frauen dank ihrer Empathie und ihres im Vergleich zu den Männern grösseren Interesses am Zwischenmenschlichen mindestens so viel Erfolg haben können wie Männer. Diversity mag als Schlagwort in Ungnade gefallen sein, weil es missbraucht wurde. Doch es wird in keinem Bewerbungsgespräch mehr vorkommen, dass ein Chef auf die Lohnforderung einer Frau antwortet «das ist ja gleich viel wie ein Mann» (so erzählte mir eine erfolgreiche Werberin aus ihrer Vergangenheit). Fortschritt passiert trotz aller Trägheit, die menschgemachten Systemen innewohnt, und Fortschritt beginnt immer am heutigen Tag. Deshalb ist heute ein guter Tag, mit den Bemühungen für mehr Gleichstellung fortzufahren, auch wenn man glaubt, es sei davon schon mehr als genug vorhanden.

Frauen sorgten und sorgen meiner Ansicht nach dafür, dass die Werbung als Arbeitsumfeld menschlicher geworden ist

Nur für Sie.