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Fernab von allen Regeln

Ohne Kreativität keine Revolution. Das weiss auch der Koch Stefan Wiesner. Sein Erfolgsrezept: Neugierde plus Bescheidenheit. Wiesners Naturküche ist eine Sensation.

Remy Fabrikant

2021

«Kochen ist Macht. Und die Zutaten sind das Zepter», Stefan Wiesner und eine Mitarbeiterin bei der Arbeit.
«Kochen ist Macht. Und die Zutaten sind das Zepter», Stefan Wiesner und eine Mitarbeiterin bei der Arbeit.
Tina Sturzenegger

Ich sitze an einem länglichen Holztisch im Gasthof Rössli in Escholzmatt. Eine typische Gaststube, wie sie einst in jedem Dorf gang und gäbe war. Schräg gegenüber hat sich gerade ein Einheimischer hingesetzt, um seine tägliche Stange Bier zu trinken. Die gedämpften Geräusche aus der Küche lassen erahnen, dass dort bereits Hochbetrieb herrscht. Ab und an schaut die Serviertochter vorbei und erkundigt sich, ob alles in Ordnung sei. Kein Anzeichen, dass in diesem Landgasthof gerade eine Revolution stattfindet.

Der Vorläufer jeder Revolution ist die Kreativität. Gleichbedeutend damit, Bestehendes zu hinterfragen und Bewährtes zu verlassen. Aber auch: durch Niederlagen und Scheitern zu lernen. Das Ergebnis eines solchen Strebens kann eine neue Intelligenz sein, was Stefan Wiesner, der Besitzer und Koch des «Rössli», wie folgt ausdrückt: «Meine Arbeitsweise zeichnet sich in besonderem Masse durch Neugierde aus. Weil ich herausfinden möchte, was ich noch nicht weiss.» Wiesner, ein Ungebildeter, wie er von sich selbst sagt, bildet sich autodidaktisch in der Reflexion seiner Arbeit aus. Dabei lässt er seiner kindlichen Neugierde freien Lauf, indem er zuerst Gerichte auf ein Blatt malt, in seiner Vorstellung weiterentwickelt und arrangiert, um sie schliesslich zu verwirklichen. In der Realität angekommen, werden die Gerichte analysiert und archiviert. Dann beginnt der Prozess wieder von neuem.

So hat sich Wiesner Skizze für Skizze einer alchemistischen Naturküche angenähert beziehungsweise sie gleich neu definiert.

Um sich selbst und seine Kreativität zu verstehen, konzipierte er gemeinsam mit einem befreundeten Lehrer seine eigenen Schlüssel. Mit ihrer Hilfe bringt er Ordnung in seine chaotische Gefühlswelt und kann seine Kreativität ökonomisch nutzen. Viele grosse Künstler nutzen dieses Prinzip der Sequenzierung, um ihre kreative Kraft zu leiten und einzuteilen. Wiesners Basiswerkzeug sind die vier Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft – und ab und zu eine Motorsäge. Mit diesen Elementen kreiert er neue Geschmackserlebnisse und eröffnet völlig neue Perspektiven, auch wenn sich die Zutaten direkt vor seiner Haustüre finden. Hier geht es nicht um Terroir, sondern um Territoire. Ein neues Feld der kulinarischen Geisteswissenschaften.

Kochen ist Macht und die Zutaten das Zepter. Laut Wiesner hat es jeder Koch in der Hand, seine Gäste müde, munter, lustlos, geil, krank, gesund, dumpf oder kreativ zu machen – nur wüssten es die meisten nicht. Langsam bekomme ich eine kleine Ahnung, weshalb dieser Freigeist in seiner Küche die Rinde von Bäumen destilliert, Kohle siebt und damit Brot backt, Hölzer zu Vanillin und Glukose verarbeitet oder Heusuppe aus geräuchertem Schnee fertigt. Viele der beinahe vergessenen Techniken stammen ursprünglich von Alchemisten, was Wiesner am Anfang seiner Karriere den Namen «Hexer» einbrachte. Doch selbst wenn sein berühmter Holzkohlensenf oder die Bauernbratwurst mit echtem Gold die Menschen verzaubert, greift dieser Titel viel zu kurz.

In jedem seiner Menus deckt Stefan Wiesner auf, dass die Natur für uns Menschen viel mehr bereitstellt als nur Gemüse, Getreide und Fleisch. Er erweitert das bekannte Prinzip «nose to tail» mit seinem Prinzip «root to leaf» radikal und zieht die gesamte Natur als Essenslieferantin in Betracht. Wenn Stefan Wiesner zum Periodensystem einfach neue Elemente addiert, mag das unwissenschaftlich und unseriös sein, aber im künstlerischen Diskurs sehr wohl machbar. Er sprengt den Rahmen und schafft mit seiner akribischen Suche und deren Dokumentation neue Regeln. So hat Stefan Wiesner seine alchemistische Naturküche konsequent entwickelt. Er forscht, werkelt und kocht mit allem, was die Umgebung und die Natur hergeben – und baut dabei seine ganz eigene Naturphilosophie auf.

Durch die Analyse der Natur und ihre philosophische Beurteilung kam Wiesner auch auf die Idee, eine eigene Akademie zu gründen. In dieser sollen Philosophen, Umwelttechniker, Chemiker, Köche und Botaniker dozieren und den Rahmen der Naturphilosophie um Kultur, Ökologie, Ästhetik und Kunst erweitern. Leider ist dieses Vorhaben vorerst gescheitert. Es bleibt zu hoffen, dass es im nächsten Anlauf klappt und er ein Vorbild schaffen kann, wie das dem jungen Walter Gropius mit dem Bauhaus gelungen ist. Dieser machte sich nicht nur als Architekt wagemutiger, moderner Bauten einen Namen, auch als Verfasser theoretischer Schriften ist er ein Vordenker und verkündete in einem Manifest 1919: «Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau!» Architektur, Bildhauerei und Malerei sollten zum Handwerk zurückgeführt werden, um gemeinsam den Bau der Zukunft zu gestalten. Gropius sah dabei keinen Wesensunterschied zwischen Handwerk und Kunst.

Man muss auch den Besuch bei Stefan Wiesner als ein Eintauchen in eine Art Gesamtkunstwerk betrachten. Der Spitzenkoch erklärt jeden Gang und erläutert die Geschichte hinter jedem Gericht. Diese neue Kenntnis macht jeden Bissen zu einem Erlebnis und ist Ausgangspunkt für die Vermittlung zwischen Werk und OEuvre, Wert und Wirkung, Sinn und Sachlichkeit, Position und Transzendenz, Arbeit und Leben. Damit wird sie zu einem Ort, an dem sowohl die Sinnhaftigkeit, also der Bezug des Werkes zur Welt, als auch die Selbsterkenntnis, also die persönliche Beziehung zur Welt, verhandelt werden.

Am Ende des Tages bewertet jedoch unser Geschmackssinn die philosophischwissenschaftlichen Resultate und nicht der Geist (auch wenn Letzterer beim Zelebrieren des alchimistischen Wissens ebenfalls befriedigt wird). Wenn Stefan Wiesner in seinem Menu «die Baustelle» eine Baustelle verkocht, nutzt er vom Beton über die Armierungseisen bis hin zur Abschrankung Zutaten, die normalerweise nicht oder jedenfalls nicht in dieser Zusammenstellung in der Küche zu finden sind. Ebenso zeigen Menus mit so vielsagenden Namen wie «Der Landrover 90», «Das Meitlifüdli» oder «Die Magie der Bäume», dass die Kreativität des Küchenkünstlers keine Grenzen kennt. Dabei entstehen extrem leckere, experimentelle Speisen, die ganz bewusst mit dem Unerwarteten spielen und die Provokation als Stilmittel einsetzen. Im Mittelpunkt steht jedoch immer eine Kochkunst von handwerklicher Perfektion aus frischen, gesunden und regionalen Produkten, bestehend aus allem, was die nahe gelegenen Felder, Wälder und Gewässer zu bieten haben.

Seit zwanzig Jahren kreiert Stefan Wiesner alle drei Monate ein neues 8GängeMenu. Die über achtzig eigenständigen Menus haben ihm 17 Punkte bei Gault Millau, einen Michelin Stern und einen grünen MichelinStern für nachhaltige Küche eingebracht. Wiesner spielt in der höchsten Liga, obwohl oder gerade weil er sich nicht an die Regeln hält. So ist sein Gasthof vermutlich das unprätentiöseste Lokal in beiden FeinschmeckerBibeln. Fernab jeglicher Zivilisation trinken dort Einheimische ihr Bier neben weitgereisten Gourmets. Und während Sie dieses Porträt lesen, dreht Stefan Wiesner vermutlich gerade den nächsten Stein im Entlebuch um, um eine neue Welt in seinem ganz eigenen kulinarischen Universum zu kreieren.

Das Interview mit Stefan Wiesner zum Thema Kreativität ist im Podcast «Creativität» von Remy Fabrikant zu hören. Auf adc.ch und auf Spotify, Apple, Google und AmazonPodcast.

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Fernab von allen Regeln
Tina Sturzenegger

 REMY FABRIKANT ist CEO des Team Cosmo und hält Kreativität für den wichtigsten Kraftstoff, der uns hilft, eine prosperierende Entwicklung unserer Gesellschaft zu ermöglichen und das neue Zeitalter der Creative Society einzuläuten.

Remy Fabrikant
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