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Küsst die Muse lieber Männer?

Bestenlisten in den diversen Künsten geben vor, dass Männer phantasiereicher und innovativer seien. Ob das tatsächlich an den Kreationen liegt, ist die Frage.

Sherin Kneifl

2021

Küsst die Muse lieber Männer?
Küsst die Muse lieber Männer?
Joana Faria

Die Musen sind neun Schwestern, die Töchter von Göt­tervater Zeus und Mnemosyne, der Göttin des Gedächt­nisses, und ihr Job ist es, Künstler zu inspirieren. So steht es in der griechischen Mythologie geschrieben. Bis zum 21. Jahrhundert scheinen sie allerdings ihre Gunst etwas ungleich verteilt zu haben. Lassen Sie uns die aktuellen Lis­ ten mit den wichtigsten Persönlichkeiten in der Welt der diversen Künste anschauen: Unter den zwanzig meist­ gestreamten Songs Mitte Juni 2021 stammten laut dem Musikmagazin «Rolling Stone» zwei von Sängerinnen (Oli­ via Rodrigo, Taylor Swift). In der «San Pellegrino»­Liste, dem Forum für die besten Köche der Welt, fand sich 2019 (2020 wurde ausgesetzt) die erste Frau auf Platz 23, nämlich Daniela Soto­Innes mit ihrem Restaurant Cosme in New York. Für die sechzehn Haute­Couture­Häuser, die vergange­nen Juli atemberaubende Modeschöpfungen in Paris zeigten, zeichnen fünf Frauen als Chefdesignerinnen verantwortlich: Adeline André sowie Bouchra Jarrar jeweils für ihr gleich­namiges Label, Virginie Viard für Chanel, Maria Grazia Chiuri für Christian Dior und Chitose Abe für Jean Paul Gaultier. In der bildenden Kunst zählt der renommierte Kunstkompass 2020 unter den Top Ten drei Frauen (Rose­marie Trockel, Cindy Sherman, Pipilotti Rist). Solche Ran­kings lassen sich auch im Design, in der Architektur oder der Werbebranche finden.

Was sagen uns diese Aufstellungen: dass Frauen nicht annähernd so kreativ sind wie Männer? Ist Kreativität über­haupt vergleichbar? Oder geht es bei derartigen Résumés um ganz andere Aspekte als die schöpferische Kraft an sich?

Das Genie
Auch wenn potenziell jede und jeder schöpferische Fähigkei­ten besitzt, um ein neues physisches Produkt zu erfinden oder ein geistreiches Resultat hervorzubringen, unterscheiden sich sowohl die Qualität als auch die Quantität des Schaffens. Kreativität ist darum schwer fassbar. Aber es gibt sie, die gene­rell originelle Persönlichkeit. Und sie weist bestimmte Eigen­schaften auf. Sie ist autonom, offen für neue Erfahrungen, selbstbewusst, ehrgeizig, dominant, wenig verträglich und impulsiv, so eine Meta­Analyse mit insgesamt 13000 Personen aus achtzig Studien. Zudem besitzt sie in der Regel Beharrlich­keit. Kreative Köpfe sind Nonkonformisten; sie missachten Regeln. Wer noch nie Dagewesenes erreichen will, muss Dinge miteinander kombinieren, die eigentlich nicht zusam­menpassen. Divergierendes Denken beschreibt die breite Su­che nach Alternativen. Auch das ist kreativen Menschen ge­mein. Genauso wie Ambiguitätstoleranz, also widersprüch­liche und unsichere Situationen auszuhalten und zugleich an ihrer Bewältigung zu arbeiten. All die genannten Wesens­merkmale können Menschen beiderlei Geschlechts aufweisen.

Fazit: Bei den Charakterzügen, die zu Einfallsreichtum führen, gibt es keinen signifikanten Unterschied der Ge­ schlechter. Wir wissen allerdings, dass Neues Chuzpe erfor­dert, die – evolutionsbiologisch sowie aufgrund des tradier­ten Rollenverständnisses – in der Tat eine eher maskuline Eigenschaft ist. Zusätzlich sind Männer Kritik gegenüber resistenter, lassen sich weniger schnell entmutigen. Die gute Nachricht für uns Frauen: Ein mutiges Mindset mag aufge­baut werden. Man wacht nicht eines Tages auf und ist kühn. Tatsächlich basiert die Entscheidung, ein Risiko einzugehen, auf Nachdenken und kalkuliertem Aufwand. Das spricht für einen Vertrauensvorschuss für die weiblichen Fähigkeiten.

Der Weg
Der geniale Geistesblitz ist eine Seltenheit. Entgegen der populären Vorstellung besteht ein kreativer Akt aus mehre­ren Prozessen, in der Regel vier Phasen, die nicht unbedingt linear ablaufen müssen, sondern sich überschneiden können. Erstens: Kein kreativer Output ohne Vorbereitung, demnach ohne Auseinandersetzung mit dem fraglichen Gebiet. Wich­tig ist, nichts erzwingen zu wollen. Am besten, man lässt das Thema links liegen. Monotone Tätigkeiten lenken das Ge­hirn ab, so dass es Kapazitäten frei hat, nebenbei etwas Neues zu ersinnen. Ideen sind wie Grippeviren; sie besitzen eine Inkubationszeit. Während dieser kreativen, zweiten Phase wird das Knäuel an gesammelten Informationen ent­wirrt, und wir folgen dem roten Faden hin bis zum Aha­ Erlebnis (der Erleuchtung in Phase drei). Darauf folgt die Verifikation in Phase vier mit der Umsetzung des Werks und dessen Überprüfung.

Bei Kindern kann man wunderbar beobachten, wie sie sich einer Sache hingeben und ganz im Moment sind. Diesen «Flow»­Zustand, in dem sich die Abläufe mühelos ergeben, erleben auch Kreative im Idealfall. «Jedes Kind ist ein Künst­ler. Das Problem ist, Künstler zu bleiben, wenn man erwach­sen ist», wusste schon Pablo Picasso. Selbstversunkenheit und der nahezu spielerische Umgang mit einem Problem werden viel eher Männern zugestanden: Sie können oder dürfen sozial betrachtet das Kind in sich bewahren.

Fazit: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Sie geht den Weg wahrscheinlich ernsthafter an als er, so dass allenfalls der Spass auf der Strecke bleibt. An ähn­lichen Zielen kommen beide an.

Es könnte an den Hormonen liegen
Silke Heimes, die Leiterin des Instituts für kreatives und therapeutisches Schreiben an der Universität Darmstadt, forscht unter anderem über Geschlechterunterschiede in der Kreativität. Die Professorin stellt klar, dass empirische Untersuchungen bisher gemischte Ergebnisse gebracht haben: «Die Hälfte der Studien zeigt keine Unterschiede, während die andere Hälfte für die Frauen eine leichte Über­legenheit bei kreativen Leistungen statuiert.» Und trotzdem haben Männer in der Wahrnehmung einen höheren kreati­ven Output. «Ihre Kreativität ist oft an ein Selbstbewusst­ sein und eine Resistenz gegenüber Kritik gekoppelt. Frauen sind selbstkritischer und haben Angst, die in sie gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen. Das könnte eine Rolle spie­len», sagt Heimes.

Es liegt nahe, biologische Faktoren heranzuziehen, um Differenzen zu erklären. Es könnte einerseits an den Hormo­nen liegen und andererseits am Gehirn, das bei Männern grösser und «variabler» ist, was zu verschiedenen Arten der geistigen Verarbeitung führt: Frauen nutzen mehr Hirn­areale, Männer verwenden die Bahnen effektiver, indem sie Cluster bilden. Er aktiviert andere Hirnregionen als sie und wendet dadurch andere mentale Strategien an. Allerdings ergeben sich dadurch keine herausragenderen Ergebnisse.

Fazit: Obwohl biologische Faktoren einen Einfluss haben, stehen sie nicht im Zusammenhang mit den als ungewöhn­licher qualifizierten Resultaten von Männern. Mama ist die beste Köchin, trotzdem stehen in den Top-Restaurants Männer am Herd. Das könnte darauf hinweisen, dass sie die besseren Verkäufer sind und die Ego-Show draufhaben.

Die Sozialisation: Sind unsere Eltern Schuld?
Okay, Blautöne regen die Phantasie mehr an als das Pendant in Rotabstufungen. Aber nur am falschfarbigen Strampler oder an den Wänden im Kinderzimmer kann es nicht liegen, dass sich die Herren der Schöpfung offenbar origineller ausdrücken. Unsere Erziehung spielt eine entscheidende Rolle. Grossen Einfluss hat die externe Motivation. Anreize (Belohnung, Wettbewerbe, bessere Noten) befeuern die innovative Produktivität von Buben und hemmen gleichzeitig die von Mädchen. In reinen Mädchenschulen, ohne den Konkurrenzkampf mit Kameraden, fand man phantasievollere Ergebnisse der Mädchen als in gemischten Klassen. Diese Tendenz zieht sich bis ins Erwachsenenalter durch. Frauen sind leichter beeinflussbar durch Gruppendruck. Forscher an der Washington University überprüften, inwiefern sich Leistungsdruck auf die Innovationskraft auswirkt. In jenen Teams, die nur aus Männern bestanden, hatte die Wettbewerbssituation einen positiven Einfluss, auf jene von Frauen hingegen einen negativen. Hier kommt zusätzlich die soziale Konformität ins Spiel: Mädchen und Frauen neigen dazu, eigene Einfälle für sich zu behalten und sich an dem zu orientieren, was andere – meist Männer – ihnen vorführen.

«Die Biografien kreativer Frauen belegen deutlich, wie wichtig die elterliche Förderung – die ideelle und materielle – gewesen ist», schreibt die Psychologieprofessorin Annette Kämmerer. Sie hat sich an der Universität Heidelberg dem Thema gewidmet. Frauen sähen sich eher als Nachahmerinnen und weniger als Innovatoren. «Es könnte die Not sein, die erfinderisch macht, die Aufforderung zum Spiel, die Langeweile, die Sehnsucht, das Recht-haben-Wollen oder die Verführung und die Lust . . .» Inspirieren lassen Frauen sich von Musik, Büchern, Kunst sowie der Natur. Bei Männern sind es mehr Gespräche und Diskussionen sowie das Internet, wie Heimes herausfand.

Fazit: Frauen sind in ihrer Ausdrucksweise durch Stress, Druck, Zeitmangel, Versagensangst, Selbstzweifel gehemmt. Sie brauchen bestimmte Rahmenbedingungen, um sich ent- falten zu können. Männer beflügelt der Wettkampf. Sie sehen Kreativität als

«Männer beflügelt der Wettkampf. Sie sehen Kreativität als eine Disziplin, in der sie gewinnen wollen.»
– Sherin Kneifl

Die Voraussetzungen, damit weibliche Genialität wirken kann, setzen sich zusammen aus dem kreativen Klima, was die unmittelbare Umgebung meint, sowie dem kreativen Milieu, das soziokulturelle und politische Aspekte umfasst. Frauenplattformen wie Fempowerment-Agenturen oder Female Hubs sind sinnvoll und bringen etwas. Leidenschaft ist unwiderstehlich – und ansteckend. Darum sollten wir den Funken in uns auf andere überspringen lassen, zum Beispiel indem wir über Visionen sprechen. So können wir andere inspirieren, nicht nur uns zu unterstützen, sondern auch unserem Beispiel zu folgen.

Der Zugang zu Ressourcen ist für die Entwicklung und Ausübung kreativen Schaffens mit von Bedeutung. In der Musikbranche haben Forscher ihn sogar als entscheidenden Faktor für das vorherrschende geschlechtsspezifische Gefälle ausgemacht: Frauen absolvieren seltener eine Ausbildung, erhalten nicht die gleiche Feedback-Qualität wie ihre Kollegen und weniger häufig Zugang zu wichtigen Aufgaben.

«Role models», also Menschen mit Vorbildfunktion, sind ein Schlüssel zum erfolgreichen Wandel. Wie die US-Sänge- rin Beyoncé. Sie nahm im März ihren 28. Grammy entgegen und machte sich zur meistdekorierten Künstlerin in der Geschichte des Musikpreises. Übrigens gingen alle Awards in den Königskategorien bei der diesjährigen Verleihung an Frauen. Die Schriftstellerin Louise Glück erhielt 2020 den Nobelpreis für Literatur. Und an den Oscars 2021 feierte Hollywood die Regisseurin Chloé Zhao: Ihr Drama «Nomadland» gewann unter anderem in der Kategorie «Bester Film». Die Fondation Beyeler widmet ab dem 19. September 2021 den Frauen in der Kunst ein «Close-Up».

Be your own Muse
In der Antike glaubte man noch, dass Künstler auf die Arbeit der Musen angewiesen seien, um «das gewisse Etwas» zu erlangen. Sie hauchten ihnen die göttliche Eingebung ein. Aber dieses innere Feuer können wir locker allein anzünden. Kreative Leaderinnen wie Anna Wintour, die legendäre Chefredaktorin der US-«Vogue», geben ihre Tipps gern in einer Masterclass an Frauen weiter. «Nähre dein Talent», ist einer davon. «Dies ist ein guter Rat für alle, die eine kreative Expertin werden wollen, sei es in der Musik, der Kunst, dem Schreiben oder anderen Disziplinen. Zu wissen, dass wir uns für ein angeborenes Talent begeistern, bedeutet nicht, dass wir die Meisterinnen des Fachs sind. Wir müssen ständig lernen, üben und versuchen, unsere Grenzen zu überschreiten», sagt Wintour. Und sie ruft uns Frauen dazu auf, uns Freiheiten herauszunehmen: «Sich selbst zu befreien, öffnet den Geist für Inspiration und Erfindungsreichtum. Ein Ge- fühl der Freiheit ist der Boden für Experimente, die dabei helfen, unser Portfolio zu erweitern.» 

2021 ist die Muse selbst der Star.

SHERIN KNEIFL hat mehrere Biografien geschrieben und arbeitet hauptsächlich als Text-Consultant und Kommunikationsexpertin. Sie stammt aus Österreich und lebt in Zürich.

Sherin Kneifl
Sherin Kneifl
Amanda Nikkolic

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