Kunst von Menschen, die in keine Schublade passen, gebührt mehr Beachtung. Zwei Zürcher Institutionen arbeiten daran.
2024
«Schreib, dass die Botschafter von Israel und Syrien eingeladen sind, hierim Museum zusammen einen Kaffee zu trinken!», ruft der Bieler Künstler Parzival’. An einem Nachmittag im April kommt er überraschend auf einen Besuch ins Zürcher Musée Visionnaire. Von Kopf bis Fuss in Grün gekleidet, steht der 81-Jährige vor Manuela Hitz, begrüsst die künstlerische Leitung des Musée Visionnaire mit einer Verbeugung – und lässt die Gelegenheit nicht ungenutzt, auf seine Mission hinzuweisen. Nichts Geringeres als den Weltfrieden hat er im Sinn. Und daran arbeitet er seit über fünfzig Jahren. Auch wenn der selbsternannte Grünschuhpharao nicht gerade unangemeldet vorbeikommt, ist er doch immer präsent: Über dem Empfangstresen tickt eine von ihm bemalte Wanduhr unaufhörlich vor sich hin, so laut und schnell, als könne es der Minutenzeiger kaum erwarten, sich mit dem Sekundenzeiger abzuklatschen. Sie soll uns daran erinnern, dass die Zeit läuft. Fast täglich erreichen das Musée Visionnaire handgeschriebene Briefe und Postkarten von Parzival’, mal sind es knappe Botschaften, mal halbe Romane, in denen er auf das aktuelle Weltgeschehen Bezug nimmt, für Esperanto als Weltsprache wirbt oder Regierungsvertreter: innen zu einem klärenden Gespräch ins Niederdorf einlädt. Thomas Hirschhorn hat Parzival’ in einem Artikel jüngst als den grössten Künstler unserer Zeit bezeichnet. «Er ist seiner Zeit voraus», schreibt der Installationskünstler. Wie die Wanduhr im Museum. Dass es überhaupt so weit gekommen ist, dass Parzival’ nicht nur irgendein schräger Typ aus Biel ist, sondern tatsächlich als Künstler wahr- und ernstgenommen wird, ist nicht selbstverständlich. Denn sogenannte Outsider Artists wie Parzival’ bleiben meistens genau da: draussen. Ausserhalb des Kunstbetriebs, ausserhalb der grossen Museen, ausserhalb dessen, was gemeinhin als Kunst bezeichnet wird. «Das ist heute leider noch immer oft so», sagt Mirjam Varadinis, Kuratorin für zeitgenössische Kunst am Kunsthaus Zürich. «Auch in den Kanon der Kunstgeschichte und somit in wichtige Museumssammlungen wurden nur ganz wenige aufgenommen. Doch eigentlich sollte es um das Werk gehen – und weniger um die Lebensläufe der Menschen dahinter.» Umso wichtiger sind Institutionen wie das Musée Visionnaire in Zürich. Es hat sich zum Ziel gesetzt, die Konventionen des Kunstmarkts auf zu brechen. «Wir wollen den Dialog für ein breiteres Kunstverständnis öffnen, den Kunstbetrieb zugänglicher, diverser und inklusiver gestalten», beschreibt Manuela Hitz die Herangehensweise. «Deswegen rücken wir bewusst Künstler: innen in den Vordergrund, die sich nicht von Trends und Erwartungshaltungen konditionieren lassen.» 2019 war Parzival’ Teil einer Gruppenausstellung im Musée Visionnaire. Inzwischen sind auch grosse Museen auf ihn aufmerksam geworden. «Ich finde es faszinierend, mit welcher Radikalität Parzival’ seine Mission verfolgt », meint Mirjam Varadinis. «Er reagiert wie ein besonders feinfühliger Seismograph auf unsere Zeit und schafft ein ganz eigenes, originelles Universum, das unbedingt auch einem breiteren Publikum gezeigt werden sollte.»
Während sich der Schweizer Kunstbetrieb bisher noch zaghaft auf das Nebeneinander von etablierten Künstler:innen und Kreativen, die angeblich nicht der Norm entsprechen, einlässt, sind andere Länder einige Schritte weiter. Ganz selbstverständlich werden die Werke von Judith Scott – sie hatte das Down-Syndrom – im New Yorker MOMA gezeigt, die Polka Dots von Yayoi Kusama sind längst im Mainstream angekommen, zuletzt hat die Japanerin mit einer gigantischen Installation an einer Pariser Louis-Vuitton-Filiale für Aufsehen gesorgt. Einer, der in der Schweiz den Sprung in den inneren Kreis geschafft hat, ist Pascal Vonlanthen. Zweimal war der geistig behinderte Bauernsohn aus Fribourg für den Swiss Art Award nominiert. Seine Werke, in denen er Wörter aus Zeitungen und Zeitschriften in ihre Einzelteile zerlegt, sie neu zusammensetzt und ihnen so eine völlig andere Bedeutung gibt, wurden bereits in Galerien in Mailand, New York und São Paulo gezeigt.
Inklusive Kunst: Das Musée Visionnaire will Konventionen aufbrechen
Ein amerikanischer Modedesigner sicherte sich gar die Rechte an fünf seiner Werke, um damit seine Kollektion zu bedrucken. Werden Künstler:innen, die sich ausserhalb der Konventionen bewegen, bald auch ohne namhafte Mentoren aus der Szene den Weg in die bedeutenden Häuser finden? «Das wäre natürlich wünschenswert. Auch wenn es dafür noch Zeit braucht», sagt Manuela Hitz. «Umso wichtiger ist es, dass kleine Museen wie wir und etablierte Institutionen wie das Kunsthaus hier und heute zusammenarbeiten.» Denn nur, wenn bestehende Kategorien hinterfragt und Hierarchien abgebaut werden, gibt es die Möglichkeit, diesen Kunstschaffenden die Präsenz zu verleihen, die sie verdienen – und die Grenzen zwischen dem Drinnen und dem Draussen aufzuheben.